Völlig erschöpft und dehydriert schleppten sich innerhalb von drei Tagen 50.000 Menschen über die syrisch-irakische Grenze. Viele von ihnen erlitten bei Temperaturen von über 45 Grad einen Hitzschlag. Um nicht zu verhungern aßen sie Blätter und Baumrinde und vergifteten sich dabei mitunter.
Die Flüchtlinge sind Jesiden. Sie gehören der Volksgruppe der Kurden an. Doch sie unterscheiden sich von den meisten Kurden durch ihre Religion. Das Jesidentum hat keine heilige Schrift. Stattdessen werden die Traditionen und Glaubensvorstellungen mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Nach den Überlieferungen schuf Gott sieben Engel aus seinem Licht. Die Engel formten dann aus einer Perle die Erde und den Himmel.
Jeside kann man nicht werden. Man muss als solcher geboren werden – das heißt, beide Eltern müssen Jesiden sein. Wer einen Andersgläubigen heiratet, muss grundsätzlich die Religionsgemeinschaft verlassen. Dennoch erkennen die Jesiden auch andere Religionen an. Man müsse keine Jeside sein, um ein guter Mensch zu werden.
Es gibt keine konkreten Zahlen wie viele Jesiden es gibt. Schätzungen gehen von 500.000 bis 800.000 weltweit aus. Die meisten von ihnen leben im Nordirak, dort wo sich die Soldaten der IS gerade auf dem Vormarsch befinden. Andere Siedlungsgebiete sind die Kurdengebiete in Syrien, der Türkei und dem Iran. Aufgrund von Verfolgungen und Diskriminierung sind viele Jesiden ins Ausland geflohen. Die größte Exilgemeinde gibt es in Deutschland. Laut dem Zentralrat der Jesiden zählt sie rund 60.000 Mitglieder. Die meisten wohnen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Nicht erst seit diesem Jahr sind die Jesiden im Nordirak Verfolgungen ausgesetzt. Ab 1965 begann die Baath-Partei, deren Generalsekretär Saddam Hussein wurde bevor er als Staatspräsident die Macht des Landes übernahm, damit, Jesiden in sogenannte Modell- oder Zentraldörfer umzusiedeln. Dort hatte die Partei mehr Kontrolle über sie. Ziel der Aktion war es, ein einheitlich arabisches Staatsvolk im Irak zu schaffen. In den Schulen im Zentralirak wurden die Jesiden nicht in ihrer kurdischen Muttersprache Kurmandschi unterrichtet, sondern auf Arabisch.
Außerdem gelten die Jesiden bei einigen Muslimen als “ungläubig”, “gottlos” und “unrein”. Da die Jesiden keine heilige Schrift haben, sind sie nach einer Auslegung der islamischen Lehre nicht als schützenswerte Religion anerkannt. Schutz erhalten nur Buchreligionen wie das Christentum und das Judentum. Bei radikalen Muslimen gilt die Tötung eines Jesiden als heilige Handlung, die dem Täter den Einlass zum Paradies verschafft.
Für manche sind Jesiden “unrein”
Jesiden haben keine Paradies-Hölle-Vorstellung. Nach ihrem Glauben wird der Mensch nach dem Tod wiedergeboren. Die Seele wandert in einen neuen Zustand, der durch die Taten im vorherigen Leben bestimmt wird. Sie wählen zu Lebzeiten eine Jenseitsschwester beziehungsweise einen Jenseitsbruder. Das “Geschwisterpaar” übernimmt im Jenseits moralische Mitverantwortung für die Taten des Anderen. Nach der Vorstellung der Jesiden bestand die Verbindung der “Geschwister” bereits im vorherigen Leben und wird auch im künftigen bestehen.
Jedes Jahr im Herbst pilgern die Jesiden in den nordirakischen Ort Lalisch um das “Fest der Versammlung” zu feiern. Dies ist ihr Pedant zur muslimischen Pilgerfahrt nach Mekka. In Lalisch liegt Scheich Ali begraben. Er ist für die Jesiden die Reinkarnation des obersten Engels Taus-i Melek. Dieser symbolisiert die Anerkennung der Allmacht Gottes.
Der gemeinsame Feind IS eint zurzeit die Kurden. Nicht nur die Jesiden und die muslimischen Kurden haben normalerweise ihre Probleme miteinander. Auch zwischen den Kurden aus den verschiedenen Staaten gibt es Differenzen. Der nordirakischen Peschmerga missfällt, dass die türkischen Kurden der PKK den Nordirak immer wieder als Rückzugsgebiet im Kampf gegen den türkischen Staat verwenden. Zudem streiten sich der Präsident der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak, Mesud Barsani, und der in der Türkei inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan um den Führungsanspruch über alle Kurden. Auch zwischen dem syrischen Ableger der PKK, der PYD, Barsani und der PKK gab es noch im Frühjahr Spannungen.
Zurzeit kämpfen die Kurden im Nordirak Seite an Seite für das kurdische Volk. Die Entstehung eines kurdischen Staates im Nordirak nachdem die IS besiegt wurde, ist im Gespräch. Wie wahrscheinlich die Gründung eines solchen Staates wäre, lässt sich momentan schwer sagen.